BB002|DELAROCHE: "Cromwell am Sarg von Karl I. "

07.04.2021

SKRIPT

Im letzten Video auf diesem Kanal hatten wir beschrieben, warum die Gemälde des französischen Malers Paul Delaroche die beliebtesten des Salon de Paris im Jahr 1831 waren. Der Grund dafür war, dass die französische Bevölkerung durch das ständige Hin und Her zwischen Monarchie und Republik, Rekonstruktion und Reformation nach der Französischen Revolution extrem verwirrt war, was ihre Vorstellung von Geschichte anging. Infolgedessen hatten sich zwei neue künstlerische Strömungen entwickelt, die den Barock des Absolutismus ablösten: der Klassizismus und die Romantik. Beide setzten sich in besonderer Weise mit der Geschichte auseinander. Der Klassizismus verstand die Geschichte als die Fortsetzung bestimmter universeller Werte oder Ideale, die sich aus der Natur ableiten und sich insbesondere auf die Antike beziehen. Für den Klassizismus findet keine wirklich Veränderung statt, sondern universelle Prinzipen werden fortgesetzt. 

Die Romantik verstand Geschichte als eine fragmentierte Sammlung individueller Erfahrungen und damit als von Einzelnen, emotional getriebenen Individuen bewegt, und sie bezog sich dabei besonders auf die englische Geschichte. Für die Romantik ist die Geschichte dieser ständige Wandel der vielen einzelnen Individuen. Auch Delaroches Gemälde beschäftigten sich mit Geschichte. Sie stellten historische Wendepunkte dar, und Delaroche wählte Sujets, die zu dieser Zeit in Frankreich aufgrund der fortschreitenden Alphabetisierung beliebt waren: Szenen aus der englischen Geschichtsliteratur wie Shakespeare oder Scott. Die Franzosen sahen die Geschichte ihrer Revolution in der Geschichte des englischen Bürgerkriegs gespiegelt und suchten daher in England Antworten auf ihre Geschichte.

Doch welches Geschichtsverständnis vermitteln nun Delaroches Gemälde? Ein klassizistisches oder ein romantisches? Oder vielleicht ein ganz anderes? Das ist die Frage, die ich in diesem Video beantworten möchte. Willkommen also zur zweiten Folge von BewegtBild – dem zweiten Teil der kleinen Serie über den französischen Maler Paul Delaroche. In dieser Folge werden wir uns also der Frage zuwenden, welches Geschichtsverständnis Delaroche in seinem Werk vermittelt. Um dies zu beantworten, werden wir das bereits erwähnte Gemälde von Cromwell von Delaroche analysieren. Im Zuge der Beschreibung werden wir uns auch mit der zu der damaligen Zeit wichtigsten Geschichtsphilosophie auseinander setzten: dem Hegel’sche Idealismus. 

Was stellt dieses Bild nun eigentlich dar? Wir sehen einen Mann, welcher den Deckel eines Sarges aufhebt, der auf zwei verzierten Stühlen aufgebahrt wurde, und die Leiche im inneren betrachtet. Der Titel verrät uns, wer dieser Mann ist. Es ist Oliver Cromwell. 

Cromwell war einer der wichtigsten und erfolgreichsten Feldherren im englischen Bürgerkrieg, in dem die Royalisten gegen die Parlamentarier um die zukünftige politische Gestaltung des Landes kämpften. Der Titel verrät uns auch, wer die Leiche im Sarg ist: der damalige König Englands und Widersacher Cromwell, Karl I. Der Stuart regierte von 1629 bis 1640 unabhängig vom Parlament und verfolgte während dieser sogenannten „eleven year tyranny“ auch eine Religionspolitik, die als katholisch galt. Er versuchte also die Errungenschaften der konstitutionellen Monarchie zurückzudrehen, zurück zur absolutistischen Monarchie. Dies gefiel der protestantischen Bevölkerung und dem Parlament überhaupt nicht. Der Bürgerkrieg war die Entladung der Spannungen zwischen Parlament und Königtum und endete mit der Errichtung einer Republik. Cromwell ließ  den Stuart-König Karl I. 1649 wegen Hochverrats hinrichten, nachdem er die Royalisten besiegt hatte. In der dargestellten Szene sehen wir den siegreichen Cromwell, wie er den Sarg  des hingerichteten Königs im Palast von Whitehall öffnet und seinen besiegten Feind begutachtet.

Die Hinrichtung dieses Königs gilt im allgemeinen als letzter Todesstoß gegen die absolutistische Monarchie und als Anfang des Endes des Feudalismus. Der Kritiker Viel-Castel fasst das Bild in der Zeitschrift „L’Artist“ in seiner Rezension des Salons wie folgt zusammen:

„Diese letzte Begegnung zwischen Sieger und Besiegtem, Aristokraten und Reformer, absolutistischen System und demokratischem Regime ist ein großartiges  und schönes Spektakel.“

Laut Viel-Castel stellt das Gemälde somit einen Wendepunkt zwischen zwei historischen Epochen dar. Zwei Epochen, die sich in Form von zwei Menschen gegenüberstehen. Dieser Wechsel ist auch derjenige, den die französische Bevölkerung in der Revolution ebenfalls erlebt hatte. Es war der Wechsel von der Herrschaft  des Adels (in Form der absolutistischen Monarchie) zur Herrschaft des Bürgertums (in Form der  konstitutionellen Monarchie). Wenn wir wissen wollen, wie Delaroche Geschichte versteht, müssen wir analysieren, wie dieser historische Wandel in diesem Bild dargestellt wird. Stellt  er den Wandel in einem klassizistischen oder in einem romantischen Stil dar? Wir hatten in der letzten Folge erklärt, dass sich der Klassizismus in seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte fast ausschließlich auf die Antike bezieht; die Romantik bezieht sich im Gegensatz zum Klassizismus auf die englische Geschichte des 17. Jahrhunderts, vor allem  in Frankreich. Das Thema dieses Gemäldes suggeriert uns also, dass es sich um ein romantisches  Gemälde handelt. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass diese Aussage nicht so einfach zu treffen ist. Die Kritiken der Zeit machen dies deutlich:

Delacroix, der, wie gesagt, auch eines seiner wichtigsten Gemälde („Die Freiheit führt das Volk“) auf dem Salon von 1831 ausstellte, bekam auf dem Salon natürlich auch Delaroches Cromwell zu sehen, und damit den Publikumsansturm auf dieses Gemälde. Delacroix gefiel das Gemälde ganz und gar nicht. Er bezeichnete es bekanntlich als „Nonsens“. Als Antwort auf Delaroche malte er sogar ein kleines Aquarell, das zeigt, wie seiner Meinung nach die Szene behandelt werden sollte. Delacroix war nicht der Einzige, der Delaroches Cromwell  kritisierte. Auch andere Kritiker bezeichneten das Gemälde wie Delacroix als unsinnig, bedeutungslos  oder nichtssagend. Was ist der Grund für diese Kritiken?  Wenn man nach der Bedeutung des dargestellten historischen Moments geht, ist die Szene eigentlich   recht dramatisch. Aus dem Salonführer von 1831 geht hervor, dass Delaroche eine Szene  aus Francois-Rene de Chateaubriands Erzählung „Les Quatre Stuarts“ (1828) als Vorlage genommen  hatte. Darin beschreibt der Ultra-Royalist Chateaubriand die Szene wie folgt:  

„[Cromwell] ließ den Sarg öffnen und vergewisserte sich, indem er den Kopf seines Königs berührte, dass er wirklich vom Körper getrennt war; er bemerkte, dass ein so gut gebauter Mann noch viele Jahre hätte leben können. Der schreckliche Cromwell, finster und unbekannt, wie das Schicksal, genießt in diesem Moment den unerbittlichen Stolz, und er erntete Freude über den Sieg, den er über einen Monarchen und über die Natur errungen hatte.“

Chateaubriands Schilderung der Szene ist sehr dramatisch und emotional. Cromwell wird als finster, schrecklich und unerbittlich beschrieben, aber nichts davon ist in Delaroches Gemälde zu sehen. Auch sonst zeigt Cromwell keine starken Emotionen. Weder Siegesfreude, noch Traurigkeit, noch Stolz sind in seinem Gesicht zu erkennen. Er ist eher blass und regungslos, wie eine der Wachsfiguren, die Delaroche zum Aufbau der Komposition und zum Testen der Lichtverhältnisse vor dem Malen verwendete. Das Gemälde wurde genau aus diesem Grund kritisiert. Dem Maler wurde vorgeworfen, es sei undurchschaubar, was Cromwell vor dem Sarg fühle, alles wirke arrangiert und unecht, wie ein Schauspiel. Typisch für die Romantik ist eine große Emotionalität der Figuren. Die emotionalisierten Personen sind es, die die Geschichte antreiben und bewegen. Eine solche authentische Emotion fehlt hier. Es ist die Emotion, die Delacroix hier vermisst. Dieser Mangel macht das Gemälde für ihn bedeutungslos, da die Bedeutung des Historischen für ihn als Romantiker in der Emotion der Individuen zu finden ist. Es ist dieser Mangel an Emotion, welcher das erste Charakteristikum von Delaroches Cromwell ist. Dies wird deutlich, wenn man nur einen kurzen Blick auf seine Version desselben Sujets wirft.

Bei Delacroix gibt es weniger detaillierte historische Gegenstände, stattdessen werden die Gesichter und damit die Emotionen der Figuren stark betont. Cromwell hat seinen Hut abgenommen und der König ist im Profil dargestellt, wodurch beide Gesichter viel stärker hervortreten als in Delaroches Werk. Delaroches toter König ist aufgrund der Perspektive eher schlecht zu sehen; Cromwell trägt seinen Hut, der einen Großteil des Gesichtes verdeckt. Delacroix Cromwell starrt gebannt auf den Leichnam. Seine schwarzen Augen sind weit aufgerissen und zeigen eine Mischung aus Wut, Unglauben und Siegesstolz. Dies ist der typische innere Kampf der romantischen Helden. Delaroches Cromwell blickt auf die Leiche herab, so dass seine Augen nicht zu sehen sind. In einer Vorzeichnung von Delaroche wird deutlich, dass dieses Fehlen von Emotionen eine bewusste Entscheidung Delaroches ist und nicht ein Zeichen von Inkompetenz. In der Vorzeichnung, die heute im Louvre hängt, ist Cromwells Gesicht deutlich hervorgehoben und emotional ausdrucksstark. Seine Mine ist verzerrt und seine Augen sind der Fokus des Bildes. Sie heben sich deutlich ab. Die große Emotionalität Cromwells in der Skizze wird dadurch unterstrichen, dass er seinen Hut abgenommen hat, was sein Gesicht besser sichtbar macht und es stärker in den Fokus rückt, wie bei Delacroix. Seine rechte Hand liegt nicht auf dem Sarg, sondern ergreift das Kreuz unter seiner Jacke. Das vertikale Format betont auch Cromwells aufrechte Gestalt und nicht den Raum und den Toten im Sarg, wie es die Hochformatversion tut. 

Auch andere Änderungen fallen auf: In der Skizze sind die Wände nicht mit Vorhängen bedeckt, wie im fertigen Gemälde. Stattdessen sieht man getäfelte Wände und ein Gemälde mit einem verzierten Rahmen an der Wand hängen. Der Palast von Whitehall wird im fertigen Gemälde wie in einem Theater simuliert. Wir erhaschen keine Einblicke in große Hallen hinter dem Cromwell. Wie auf einer Theaterbühne simulieren nur die beiden Stühle, auf denen der Sarg steht, ein Stuhl im Hintergrund und die ornamentierte Projektion den Palast, so wie man auf einer Theaterbühne mit einigen Requisiten einen Palast simulieren würde.

Die theatralische Wirkung des fertigen Bildes wird durch die Beleuchtung verstärkt. Sie wirkt wie ein Scheinwerfer, der auf Cromwell und den Leichnam des Königs – die Protagonisten des Stücks – gerichtet ist. Delaroche nutzt diesen Effekt in vielen seiner Gemälde. In „Die Ermordung des Henri de Lorraine“ ist das Scheinwerferlicht genau auf den ermordeten Adeligen gerichtet. Ebenso scheint in „Der Tod von Elisabeth I.“ ein unnatürliches Licht auf die sterbende Königin. Das Gleiche geschieht in „Straffords Gang zur Hinrichtung“ und „Das Verhör der Jeanne d’Arc“. Delaroche wurde kritisiert, weil er in seinem Gemälde keine eindeutigen Emotionen zeigte. Dies wurde als Unauthentizität interpretiert. Die Theatralik der Komposition unterstreicht dieses inauthentische Moment. Sie macht Cromwell zu einem Schauspieler, der kein Innenleben hat, sondern lediglich eine Rolle verkörpert. Alphonse de Calonne schreibt deshalb polemisch über Cromwell in der „Revue contemporaine et Athaeum“:

„Die Komposition ist geschickt komponiert (…), um als Thema für die vulgäre Bewunderung und die Gemeinplätze einer Welt zu dienen, die ihre historische Bildung im Theater oder in Romanen gemacht hat.“

Im Gegensatz zu diesem Mangel an Authentizität und Emotion legt Delroche großen Wert auf die genaue Darstellung der historischen Objekte. Diese historischen Objekte dominieren das Gemälde über den Mangel an Emotion und Ausdruckskraft in einem solchen Ausmaß, dass der Schriftsteller und Kritiker Theophil Gautier das Gemälde mit den folgenden Worten beschrieb:

„Was mich betrifft, so gestehe ich, dass ich den Cromwell nicht mag, dieses Paar Stiefel, das auf einen Geigenkasten schaut; ich würde [alles andere] bevorzugen, (…) zu dem historischen Gebrauchtwarenladen von Herrn Delaroche.“

Das Wort „Gebrauchtware“ – „friperie“ – unterstreicht hier noch einmal polemisch, wie sehr die Gegenstände im Mittelpunkt des Bildes stehen. Auch die Beschreibung der Szene als „ein Paar Stiefel, die einen Geigenkasten betrachten“ macht noch einmal deutlich, dass die Kritiker der Zeit den emotionalen Ausdruck im Bild vermissten. Es ist nicht Cromwell, der den Sarg des Toten untersucht, sondern ein Paar Stiefel. Die  Objekte nehmen den Platz der fehlenden Emotion ein und Cromwell selbst ist so emotionslos  wie seine Stiefel. Diese Objekte basieren auf Skizzen, die Delaroche  während seiner Reise nach London in den 1820er Jahren in der Myrick Collection of Arms and  Armour und dem Convent Garden Theatre anfertigte. Dies ist das dritte Charakteristikum des Bildes  der Fokus auf die glatt und akkurat gemalten Gegenstände.  Dieser Aspekt zeigt sich auch in vielen Kritiken immer wieder. Als sein Cromwell 1850 anlässlich  der Eröffnung der Sammlung Friedrich Stammann in der Hamburger Gemäldegalerie ausgestellt  wurde, bescheinigte ihm z.B. die Zeitschrift „Das deutsche Kulturblatt“ wegen dieses Realismus die „Gediegenheit“ der „alten Holländer“. Diese Maler waren auch für ihre akkurate  Malweise bekannt. Man denke hier an die Stillleben von Willem Claeszoon Heda oder die häuslichen Szenen eines Vermeer. Dieser glatte und akkurate Malstil war nicht  typisch für die Romantik, ebenso wenig wie das Fehlen von Emotionen. Die Romantik bezog  sich vor allem auf die Landschaftsmalerei Englands und arbeitete in diesem Stil mit verschwommenen Formen und dick aufgetragener Farbe und dynamischem Pinselstrich. Dies ist  in den Gemälden von Delacroix deutlich zu erkennen. Man denke hier an seine Darstellungen  von Kämpfen zwischen Tieren oder berittenen Kriegern, sowie an seine wiehernden Pferde.  In solchen Gemälden tritt der Künstler selbst in den Vordergrund. Er präsentiert sich in  seinem expressiven Malstil. Die Pinselstriche verschwinden nicht hinter einer glatten Lackoberfläche,  sondern zeigen an, dass hier ein Mensch am Werk war. Ein Mensch, der seine subjektive  Erfahrung auf der Leinwand festgehalten hat. Für Künstler wie Ingres oder David – Künstler  des Klassizismus, die versuchten, ein universelles Ideal unabhängig von der individuellen subjektiven  Wahrnehmung darzustellen – war es wichtig, hinter dem Bild zu verschwinden. Die Gemälde   des Klassizismus waren keine individuellen Wahrnehmungen, sondern Beschwörungen eines  universellen Ideals. Ähnlich malt Delaroche hier sehr glatt und präzise. Auch er als  Maler verschwindet hinter der glatten und realistischen Darstellung.  Wenn die Emotion im Bild fehlt und damit auch der persönliche Ausdruck des Künstlers und er sich nicht auf die historischen Objekte konzentriert anstatt auf die Individuen, ist dieses Bild   dann klassizistisch? Heinrich Heine, der zu dieser Zeit in Paris lebte und ausführlich  über seine Eindrücke von der Kunst schreibt, ordnet das Gemälde in seiner Analyse eindeutig  dem Klassizismus zu. Er schreibt: 

Auf dem Gemälde sehen wir die beiden Helden des Stücks, den einen als Leiche im Sarge, den andern in voller Lebenskraft und den Sargdeckel aufhebend, um den toten Feind zu betrachten. Oder sind es etwa nicht die Helden selbst, sondern nur Schauspieler, denen vom Direktor der Welt ihre Rolle vorgeschrieben war und die vielleicht, ohne es zu wissen, zwei kämpfende Prinzipien tragierten? (…) (D)ie zwei großen Gedanken, die sich vielleicht schon in der schaffenden Gottesbrust befehdeten.

Schauen wir uns das Gemälde genauer an, um Heines Interpretation zu verstehen. Heine betont, dass es in diesem Gemälde nicht um unabhängige Individuen, ihre Emotionen und Absichten geht, sondern um Schauspieler, die historische Prinzipien verkörpern. Diese Analyse erklärt die Theatralik der Komposition.

Cromwell hat diesen Mann, der zufällig die Rolle des Königs spielte, nicht aus persönlichen Gefühlen oder innerer privater Motivation zum Tode verurteilt, sondern er war lediglich ein Schauspieler, der eine historische Notwendigkeit ausagierte, die ihm vom Regisseur der Welt auferlegt wurde, und wie Heine sagt, vielleicht ohne es zu wissen. Er schauspielert die Geschichte, welche in Form eines Skripts irgendwo außerhalb von ihm geschrieben wurde. Das hört sich zunächst ziemlich klassizistisch an. Die klassizistischen Helden verkörpern abstrakte Prinzipen der Geschichte. Es gibt jedoch einen Unterschied: im Klassizismus identifizieren sich die Helden mit einem Ideal vollkommen. Sie gehen also vollkommen in ihrer historischen Rolle auf. Wir hatten erklärt, wie idealisiert die Darstellungsform des Klassizismus war, die sich mit solch abstrakten Werten und Prinzipien beschäftigte. 

Dieses Gemälde hat nichts von einem Ideal. Delaroches Malstil ist zwar sehr glatt, aber die Darstellung der Gegenstände ist realistisch in einer Weise, die nicht versucht, einem abstrakten Ideal gerecht zu werden, sondern der Zeit, aus der diese Gegenstände stammen. Es ist nicht das Ideal einer vergangenen Epoche – wie etwa der Klassizismus die Antike darstellte – sondern ein Versuch, die Dinge so zu malen, wie sie wirklich waren. In anderen Gemälden von Delaroche ist dies noch deutlicher zu sehen: Man braucht nur Delaroches Napoleon auf dem Col du Grand-Saint-Bernard mit dem von David zu vergleichen. Davids Napoleon ist ein klassizistischer Held. Er verkörpert einen transzendenten Willen der Geschichte, er ist eins mit diesem Skript der Geschichte, vom gewisses Prinzip der Geschichte. Er ist eins mit diesem Skript der Geschichte. Er ist daher auch glatt und idealisiert. Delaroches Napoleon ist realistischer gemalt; frierend hockt er auf einem Esel, hinter ihm sind die hungernden Soldaten zu erkennen, die den eisigen Pass überqueren. 

Im Klassizismus gibt es gewisse Prinzipien und Ideale die über den Individuen stehen. Es gibt auch ein Skript der Geschichte. Doch diese Figuren des Klassizismus identifizieren sich mit ihrer historischen Rolle vollkommen. Delaroches Cromwell tut das nicht. Er scheint irgendwie herausgefallen aus der großen Erzählung. Cromwell als historischer Akteur ist also auf eigenartige Weise von seiner Rolle in der Geschichte getrennt und daher ist er auch nicht auf diese idealisierte Weise gemalt, sondern auf eine realistische Art und Weise. Doch er wird dadurch auch nicht zu einem unabhängigen emotionalen Individuum wie in der Romantik. 

Heine hat recht, wenn er sagt, dass nicht das Innere der Figuren im Mittelpunkt steht. Die romantischen Helden gehen nicht in einem Ideal auf, sondern in ihrer Emotion. Im Klassizismus verkörpern die Helden ein Ideal und die Geschichte ist eine Fortsetzung dieser Ideale. Sie sind Teil einer großen Erzählung. In der Romantik bewegt sich Geschichte durch die Emotion der Individuen. Sie sind vollkommen unabhängig von irgendeiner großen Erzählung. Doch diese Form von Emotion, von Subjektivität, von Individualität fehlt bei Delaroche vollkommen. Dieses Fehlen von Emotion zeigt an, dass es bei seiner historischen Tat nicht um private Beweggründe geht, wie bei Delacroix Darstellung. Mit seiner Tat tut Cromwell nicht nur etwas individuelles, sondern ist gleichzeitig Teil einer größeren historischen Entwicklung.

Er fällt als nicht vollkommen aus einer größeren Erzählung heraus auch wenn er sich nicht vollkommen mit ihr identifiziert. Dieses Skript der großen Erzählung der Geschichte bleibt im Hintergrund bestehen. Er hat sich bloß von ihm entfremdet. Das zeigt sich an der Theaterhaftigkeit des Gemäldes. Die klassizistischen Bilder kann man, wenn man von der Metapher eines Theaters ausgeht, verstehen als Momente in denen wir vollkommen in einem Heldenmythos auf der Bühne aufgehen. Wir ignorieren die Mangelhaftigkeit der Requisiten, die Spotlights, Publikum usw. 

Wir vergessen, dass dies ein Schauspieler ist und nicht wirkliche diese Rolle, diese Person auf der Bühne ist. Delaroche stellt den Moment dar, in welchem wir aus dieser vollkommenen Identifikation der Schauspieler mit ihrer Rolle herausfällt. Es entsteht eine eigenartige Gleichzeitigkeit von Schauspieler und Rolle. Doch das bedeutet nicht, dass diese Rolle nicht mehr präsent ist, dass dort nur ein Schauspieler auf der Bühne ist und nicht mehr diese Rolle. Es entsteht eine eigenartige Gleichzeitigkeit von dem Schauspieler und seiner Rolle. Das selbe sehen wir bei seinem Cromwell. Er ist kein klassizistisches Ideal. Er geht nicht vollkommen in seiner Rolle auf und im selben Moment ist er kein romantisches Individuum. Er ist nicht vollkommen ohne eine historische Rolle. Stattdessen existieren diese beiden Ding auf eigenartige Weise nebeneinander. 

Für Delaroche wird Geschichte also weder durch die Emotion ihrer Protagonist noch durch die Identifikation mit einem Ideal oder einem Wert gemacht. Bei Delaroche wirkt es so als würde Geschichte außerhalb von ihnen geschehen. Als würde sie quasi von selbst laufen, als hätte sie einen eignen Willen, und die Individuen sind in sie hineingeworfen. Ihre eigenen Taten scheinen ihnen fremd, da sie eben nicht in ihren Rollen aufgehen, sondern auf eigenartige Weise von ihnen getrennt scheinen. Das zeigt sich auch deutlich in der Behandlung von Subjekten und Objekten in diesem Gemälde. Wie Gautier es beschrieben hat. Die Subjekte im Bild sind objekthaft und die Objekte sind subjekthaft. Die Stiefel schauen auf den Sarg wie Subjekte und Cromwell das Subjekt, scheint gar nicht zu schauen, wie ein Objekt. Auch diese eigenartige Behandlung von Objekt und Subjekt kann man mit Klassizismus und Romantik in Verbindung bringen. 

Man kann die klassizistischen Helden als Objekte verstehen. Sie haben keinen tatsächlichen subjektiven Willen, wie die Romantiker, da sie die Manifestationen der immer gleichen Prinzipien sind. Die Romantischen Helden sind im Gegensatz dazu totale Subjekte. Cromwell steht genau zwischen diesen beiden. Er ist weder ganz Objekt noch ganz Subjekt. Während die Romantik den konstanten Wandel darstellt. Versucht der Klassizismus das Ewige und Unveränderliche darzustellen. Während die Romantik das Individuelle darstellt, stellt der Klassizismus das Ewige dar. Delaroche verbindet diese beiden Prinzipien in seinem Bild, dadurch führt er die Veränderung der Individuen in die große Erzählung ein. Es gibt eine wirkliche Veränderung und Progression in der Geschichte, aber diese ist nicht nur individuell. Ein solches Geschichtsverständnis ist sehr ähnlich, wie jenes, welches Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Philosophie formuliert.

Es ist nicht überraschend, dass wir über Heines Deutung von Delaroches Gemälde zu Hegel gelangen. Denn Hegel stellte in jener Zeit das intellektuelle Monopol in Deutschland dar. Hegel beschreibt in der Einleitung seiner Vorlesung über die Philosophie der Geschichte seine Auffassung von Geschichte wie folgt:

Diese unermeßliche Masse von Wollen, Interessen und Tätigkeiten [der Menschen in der Geschichte] sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen, (…). (J)ene Lebendigkeiten der Individuen und der Völker, indem sie das Ihrige suchen und befriedigen, (sind) zugleich die Mittel und Werkzeuge eines Höheren und Weiteren (…), von dem sie nichts wissen, das sie bewußtlos vollbringen, (…).

Auch Hegel verbindet in seiner Philosophie das Subjektive und Objektive, das Individuelle und Allgemeine im Begriff des Geistes. Es sind bei Hegel nämlich reale subjektive Individuen, welche durch ihr individuelles Wollen und ihre individuellen Interessen gleichzeitig ein Höheres und Weiteres vollbringen, nämlich den Willen des Weltgeistes. Napoleon z.B. ist ein Individuum, ein Individuum, welches auch frieren kann, wenn er auf deinem Esel den eisigen Pass überquert. Aber gleichzeitig ist er auch ein Werkzeug eines Höheren und Weiteren wie z.B. der Vernichtung der aristokratischen Herrschaft in Frankreich (und ganz Europa). Er ist also gleichzeitig Teil einer großen Erzählung, obwohl er auch ein Individuum ist. Genau diese Verbindung aus Klassizismus und Romantik stellt Delaroche in seinem Gemälde dar. Auch Cromwell ist solch eine Figur. Er hat mit seiner individuellen Tat der Hinrichtung ein Höheres und Weiteres vollbracht. Er ist nicht nur ein Mann, der den Tod eines anderen zu verantworten hat, sondern ist gleichzeitig das demokratische Regime, welches das aristokratische System hingerichtet hat, wie Viel-Castel es formulierte. Diese große Tat, welche etwas Höheres und Weiteres vollbracht hat, erscheint ihm nun als Höheres und Weiteres als etwas fremdes, etwas Äußerliches. Ihm wird in  der Reflexion seiner Tat seine große Rolle in der Geschichte bewusst und sie scheint als etwas Fremdes.

Damit können wir also unsere Frage beantworten: es sind weder die Emotionen, noch die Ideale, welche Geschichte machen, sondern Geschichte ist ein scheinbar den Menschen äußerlicher Prozess, der ihnen Rollen zuordnet, ohne, dass sie sich vollkommen mit ihnen identifizieren. Ihr individuelles Handeln enthält gleichzeitig etwas Höheres und Weiteres.

So behält er die große Erzählung des Klassizismus bei, aber eben auch reale Individuen, welche sich bei ihm allerdings nicht mit der großen Erzählung identifizieren. Sie sind stattdessen von ihr entfremdet. 

Die Helden von Delaroche sind weder mit der großen Erzählung vollkommen identifiziert, noch sind sie vollkommen von ihr losgerissen, stattdessen sind sie von ihr entfremdet. Es ist diese Entfremdung zwischen historischem Akteur und historischem Prozess, welcher die Besucher des Salons so sehr begeisterte. Man kann sich durchaus vorstellen, warum dieses Bild die Menschen nach der Revolution begeisterte. 

Vielleicht fühlen sie sich, wie Cromwell in diesem Bild dargestellt wird. Als ein Volk, dass durch ihre Masse an vielen individuellen Handlungen etwas Höheres und Weiteres vollbracht hat, welches Geschichte gemacht hat und nun blickt es reflektierend zurück auf seine Taten und diese treten ihm als etwas Fremdes, als eine höhere Notwendigkeit, die sie ohne es zu wissen vollbracht haben. Aber dies ist nur eines von Delaroches Gemälden. Was ist mit anderen wichtigen Gemälden in seinem Oeuvre? Lässt sich das gleiche Geschichtsverständnis in anderen wichtigen Gemälden dieses Malers finden? Dieser Frage werden wir uns im nächsten Video dieser kleinen Serie widmen.