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Maximilian Kostka

Paul Delaroche

Le Supplice de Jane Grey.

1833, Öl auf Leinwand, 246 × 297 cm

London, National Gallery

Paul Delaroche

Le Supplice de Jane Grey.

1832, Aquarell auf Papier, 18.4 ✕ 21.9 cm

University of Manchester, The Whitworth

Vergleicht man das fertige Gemälde mit der Skizze, so wird deutlich, dass sich Delaroche auch hier für eine bewusste Reduktion der Emotion in der Darstellung entschieden hat. In seiner Skizze verkörpern die Figuren in gewissem Sinne auch klassizistische Ideale: der Henker das ewig Grobe und Jane das ewig Unschuldige. In seinem fertigen Gemälde vermeidet Delaroche auch diese klassizistischen Ideale.

Der Scharfrichter beispielsweise steht in der eleganteren Pose einer antiken Skulptur mit Stand- und Spielbein als der eher grob anmutende Henker in der ersten Skizze.

Delaroches Figuren in seiner Version der Hinrichtung sind weder reine emotionale Individuen ohne große Erzählung, noch sind sie Verkörperungen klassizistischer Ideale wie Grobheit oder Unschuld.

Delaroche lässt nicht nur die Emotionen oder die Ideale in seinem Bild weg, sondern auch die hölzerne Bühne, die sonst in typischen Darstellungen desselben Themas zu finden ist.

George Cruikshank: The Execution of Lady Jane Grey at Tower.

1840, Stahlstich, 13.3 ✕ 10.2 cm

Titelseite In: William Harrison Ainsworth’s The Tower of London. A Historical Romance

Diese Bühne ist so im Bild platziert, dass sie nicht direkt sichtbar ist, weil sie den Bildrahmen nach unten abschließt. Das macht das Publikum vor dem Bild zu der gaffenden Menge, die man in den typischen Darstellungen direkt sieht. So wird das Publikum Teil des Bildes und blickt aus der Zukunft auf die Figuren, die sich, wie Cromwell, ihrer Rolle in der Geschichte nicht sicher sind. Aber das Publikum kennt diese Rolle, weil es aus der Zukunft auf sie blickt.

Paul Delaroche

Édouard V, roi mineur d’Angleterre

1831, Öl auf Leinwand, 181 ✕ 215 cm

Paris, Louvre

In ähnlicher Weise lässt Delaroche in seinem Bild von Edwards Söhnen im Tower etwas aus. Nämlich die Mörder, die die Prinzen jeden Moment umbringen werden.

 James Northcote: The Princes In The Tower

1786, Öl auf Leinwand, 178 ✕ 137 cm

Petworth, Petworth House

In typischen Darstellungen sind die Mörder der Prinzen im Bild präsent. Durch diese Präsenz werden die historischen Rollen deutlich: die Mörder als Grobheit und die Prinzen als Unschuld. Das Bild von Delaroche zeigt nur zwei Schatten in dem Licht, das durch den Türschlitz fällt. Dieser Schatten ist für das Publikum verständlich, aber nicht für die Figuren im Bild.

Die Söhne Edwards kennen ihre Rolle in der Geschichte nicht, aber wir, die wir in die Zukunft blicken, kennen diese Rolle, wir wissen, dass sich die Mörder hinter der Tür verstecken. Wir, die gaffende Menge vor dem Schafott von Jane Grey, sehen diese Figuren, die noch nicht wissen, welche historische Rolle sie gespielt haben werden.

Delaroches Figuren sind also weder klassizistische noch romantische Akteure. Sie sind verfremdet. Es gibt eine große Erzählung, anders als in der Romantik, aber die Akteure kennen ihre Rolle in dieser Erzählung nicht, anders als im Klassizismus. Sie sind von ihrer Rolle entfremdet. Daher hat Delaroches Geschichtsbild eine reale Zeitlichkeit: im einzelnen Moment erscheint alles nur als individuelle, bedeutungslose, d.h. romantische Handlung, aber im Rückblick scheint alles einen Sinn zu haben, alles scheint einer transzendenten Logik in einer großen Erzählung zu folgen, wie im Klassizismus.